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Der Holocaust begann auch in Ansbach – Stellungnahme zum Gedenktag am 27. Januar

Ansbach, 20.01.2021 – Am 27. Januar jährt sich zum 76. Mal der Tag, an dem sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Während des Zweiten Weltkriegs hatten die Nationalsozialisten dort und in anderen Todeslagern sechs Millionen Juden und etwa fünf Millionen anderer Menschen ermordet, die ihnen missliebig waren. Seit 1996 gilt deshalb der 27. Januar als Holocaust-Gedenktag.

In Ansbach fand aus diesem Anlass in der Vergangenheit alljährlich eine viel beachtete Gedenkfeier in der Schwanenritterkapelle statt. Sie fällt wegen der Corona-Pandemie heuer aus. Um diesen Gedenktag dennoch angemessen zu würdigen, publizieren Oberbürgermeister Thomas Deffner für die Stadt Ansbach, Pfarrer Dr. Dieter Kuhn für die Innenstadt-Kirchengemeinden, Pfarrerin Heike Stillerich, St. Gumbertus, Oberstudiendirektor Ralph Frisch für das Theresien-Gymnasium und Ulrich Rach für die Ansbacher Regionalgruppe der Bürgerbewegung für Menschenwürde eine gemeinsame Stellungnahme:

„Die Bürgerbewegung für Menschenwürde in Mittelfranken, die sich in Ansbach intensiv und öffentlichkeitswirksam um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit bemüht, bekommt es immer wieder einmal von Mitbürgern zu hören: „Was soll das? Hört endlich auf mit Herumwühlen in der Vergangenheit! Das alles liegt jahrzehntelang zurück. Es ist ein für alle Mal vorbei. Wir in unserer Generation haben damit nichts zu tun. Wir in Ansbach schon gar nicht.“ Ist das wirklich so?

Nein. Wenn man neuere Forschungsergebnisse von US-Historikern interpretiert, muss man feststellen: Der Holocaust begann sogar ganz konkret auch in Ansbach – nämlich mit der Euthanasie, also mit dem gewaltsamen Tod von etwa 2250 Kindern, Frauen und Männern, die als „lebensunwert“ eingestuft wurden. Ab Anfang der 1940-er Jahre wurde die damalige Heil- und Pflegeanstalt an der Feuchtwanger Straße zum Tatort grausamer Morde und zum Ausgangspunkt von Deportationen in die Todeslager. Die Nazi-Oberen fanden in Ansbach, wie andernorts auch, jedenfalls das, was sie zu finden erhofften: Menschen, die bereit waren, andere gewissenlos und gnadenlos zu töten. Mit dieser Gewissheit, mit diesem Wissen, so die Geschichts-Forscher, konnten die Nazis dann noch weit umfangreichere schreckliche Verbrechen planen, wie den Holocaust eben.

Und natürlich gab es da auch noch die Ansbacher Juden und ihre Schicksale. 161 von ihnen, die in dieser Stadt lebten oder geboren waren, kamen laut Gedenkbuch des Bundesarchivs in den Vernichtungslagern der Nazis ums Leben. Wobei diese Zahl sicher zu niedrig ist, weil sich im Nachhinein der Begriff „Ansbacher Juden“ nicht präzise definieren lässt. In der Zeit der Juden-Diskriminierung und -Verfolgung zwischen 1933 und 1938 hat ein großer Teil der Menschen mosaischen Glaubens – es waren wohl einige hundert – die Stadt verlassen, weil sie sich anderswo sicherer wähnten. Andere zogen allerdings auch kurzzeitig hier her. Die meisten von ihnen allen wurden jedenfalls später in den Vernichtungslagern umgebracht.

Dann erleben wir heute, dass in dieser Stadt, in dieser Region, in diesem Land bei einem doch bedenklich hohen Anteil der Bevölkerung Nationalismus, rassistisches Denken, Hetze und politischer Hass wieder aufleben. Mindestens zehn Prozent der Bürger in Deutschland, berichten die Meinungsforscher, hegen durchgehend rechtsextremistische Gedanken, weitere fünf bis zehn Prozent fühlen sich bei Einzelthemen davon angezogen. Die Wahlergebnisse der jüngeren Zeit lassen erahnen, dass auch in Stadt und Landkreis Ansbach diese Zahlen in etwa relevant sind.

Dass wachsender Rechtspopulismus und -extremismus auch den Antisemitismus fördern, erfahren wir von manchen unserer jüdischen Mitbürger. Was sich hierorts allerdings eher verkappt, verbittert-zynisch und hauptsächlich auf Stammtisch-Ebene abspielt, tritt überregional inzwischen ganz offen und schamlos in Erscheinung. Bei den Demonstrationen der Verschwörungs-Theoretiker und Corona-Leugner wird zum Bei-spiel immer wieder die Behauptung aufgestellt, „die Juden“ hätten das Corona-Virus gezielt in die Welt gesetzt, um auf diese Weise die Welt-Herrschaft zu erlangen. Andere Demonstrationsteilnehmer/innen tragen den gelben Stern der Juden aus den Konzentrationslagern auf ihren Kleidern, um auszudrücken, dass sie sich im Blick auf die ihnen gewährte Meinungsfreiheit in einer ähnlichen Lage befinden wie einst die drangsalierten Menschen jüdischen Glaubens: Eine üble Verhöhnung menschlichen Leids, des wohl größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte und eine bewusst verleumderische Falscheinschätzung unseres vorbildlichen Rechtsstaats.

Eine Demo-Rednerin verglich kürzlich ihre Situation in der Corona-Quarantäne auf beschämende Weise mit dem Schicksal des Judenmädchens Anne Frank, das als Holocaust-Opfer im KZ umkam. Anhänger von Donald Trump trugen beim Sturm auf das Kapitol in Washington T-Shirts mit furchterregenden Sympathie-Bekundungen für die Verbrechen von Auschwitz. Und in unseren Großstädten werden Juden auf offener Straße angepöbelt, angegriffen, niedergeschlagen. Nicht zu vergessen: der mörderische Anschlag auf die Synagoge von Halle. Im Durchschnitt registriert die zuständige Staatsanwaltschaft in Berlin täglich zwei neue antisemitische Straftaten in Deutschland. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen.

Bedarf es weiterer Beweise, dass es auch heute wieder gefährliche politisch Verirrte in erschreckend hoher Dichte gibt? Vor diesem Hintergrund ist das Gedenken an den Holocaust, die lebendige Erinnerung an die Massenmorde des NS-Regimes aktuell überaus wichtig. Ist dieser Tag doch ganz besonders dazu geeignet, für das Bestreben zu sensibilisieren, menschenverachtendes politisches Handeln, die Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen, das Aufblühen von Nationalismus, Extremismus, Antisemitismus, Hass, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Stadt, in unserer Region, in unserem Land zu ächten und dagegen anzugehen.“